Der Bauernführer - brand eins online

2022-10-26 13:47:19 By : Mr. Michael Song

- Auf dem Sonnenhof springt der Traktor nicht an. Der untersetzte Mann mit den kräftigen Armen dreht dreimal am Anlasser - nichts geht. Das Gefährt ist verbeult und mit Schlamm bespritzt. Aber das Unvollkommene bringt den Bauern, der einen abgegriffenen Filzhut auf seinem runden Schädel trägt, nicht aus der Ruhe. "Der hat eine Macke", sagt Rudolf Bühler. Und nach dem zehnten Versuch startet die Maschine dann doch.

Wenn der 59-Jährige lacht, strahlen runde Backen in einem vollen Gesicht mit dunklen Augenbrauen. Bühler stammt aus Wolpertshausen, einem Dorf in der Nähe von Schwäbisch Hall. Hier bewirtschaftet seine Familie seit 1378 den Sonnenhof. Als junger Mann machte er eine Ausbildung zum Agraringenieur, dann ging er als Entwicklungshelfer nach Syrien und Bangladesch. 1984 übernahm er von seinem Vater den Hof. Da merkte er, dass seine reiche Heimat ein ähnliches Problem hatte wie manche armen Länder: Die bäuerliche Landwirtschaft kapitulierte vor der Industrie, die mit hochgezüchteten Nutztierrassen größeren Gewinn versprach. Der Bauer, der ein paar Schweine mästete, schien eine aussterbende Art zu sein. Die Zukunft sollte dem Agrarmanager gehören.

"Der ländliche Raum brauchte dringend ein Entwicklungskonzept", sagt Bühler, als der Traktor über einen Feldweg hinter Wolpertshausen zuckelt. "Da habe ich meine Erfahrungen aus der Entwicklungshilfe auf Hohenlohe übertragen." Die Hochebene, nordöstlich von Heilbronn gelegen, gehört seit 1806 zu Württemberg. Aber die Hohenloher, die einen fränkischen Dialekt sprechen, legen Wert darauf, keine Schwaben zu sein. Die Freie Reichsstadt Schwäbisch Hall ist seit je der Bezugspunkt der Region, ihre Unabhängigkeit strahlte ab auf die umliegenden Dörfer. Bühlers Vorfahren waren immer freie Bauern, nie dem Fürsten von Hohenlohe untertan. Und so ist es noch heute: "Fürst Philipp begegne ich auf Augenhöhe", sagt der Landwirt.

Nach seiner Rückkehr aus Bangladesch konzentrierte sich Bühlers Entwicklungshilfe auf das Mohrenköpfle, so der Name einer alten, damals fast ausgestorbenen Nutztierrasse: Das Schwäbisch-Hällische Landschwein ist an Kopf und Hintern schwarz. Auf dem Sonnenhof gab es noch die Muttersau Bertha, über einen Aufruf im Bauernkalender suchte Bühler die letzten Exemplare dieser Rasse. 1988 gründete er mit sieben Kollegen im Sonnenhof die Bäuerliche Erzeugergemeinschaft Schwäbisch Hall. Ihr Ziel: Landschweine artgerecht zu halten, um gesundes und schmackhaftes Fleisch zu bekommen. Die Viehzüchter erlegten sich strenge Regeln auf: Antibiotika, Wachstumsförderer und gentechnisch verändertes Futter sind verboten.

Als Bühler den Traktor an der Weide abstellt, kommen ihm zwei Dutzend Mohrenköpfle grunzend und mit den Ringelschwänzen wedelnd entgegen. Die Tiere fressen Gras, Getreideschrot, Fallobst und Eicheln. Wenn die Sonne zu sehr brennt oder es regnet, trotten sie in Bretterhütten. Hinter einem Gebüsch wälzen sie sich in der Suhle, der Schlamm schützt ihre empfindliche Haut vor der Sonne. Nach einem guten Jahr wiegen die Schweine drei Zentner, dann werden sie geschlachtet.

Der Bauer gibt einem seiner Tiere einen kräftigen Klaps auf die Borsten. Handfest ging Bühler auch die Sache mit der Erzeugergemeinschaft an. "Es reicht nicht, wie der Blinde vom Licht zu schwärmen", sagt er. Er wollte nicht im Reich der Utopien glänzen, er wollte die Viehzucht verändern. Das hieß für ihn: "Ich kann von den Bauern keine Selbstausbeutung verlangen." Deshalb verhandelte er mit dem führenden Feinkosthändler in Stuttgart. In ihm fand er einen ersten Mitstreiter, der Qualität wollte und zusagte, das schwäbisch-hällische Schweinefleisch zu einem ordentlichen Preis in seinem Geschäft zu verkaufen.

Fritz Hofmann gehörte zu den Gründungsmitgliedern der Bäuerlichen Erzeugergemeinschaft. Er war Ferkelerzeuger im Dorf Kleinallmerspann, inzwischen hat er den Betrieb an seinen Sohn übergeben. In den Achtzigerjahren hatte er noch zwei Hällische Sauen im Stall, aber das war eine Liebhaberei, die der Bauer aus Anhänglichkeit an diese traditionelle Rasse pflegte. "Wir wurden ausgelacht", erinnert sich Hofmann an die Reaktionen der Bauern ringsum, "man hat uns als rückständig hingestellt, als wir anfingen, wieder Mohrenköpfle zu züchten." Beifall sei von der falschen Seite gekommen: "Da mischten sich Alternative ein, das waren richtige Fanatiker." Es sei das Verdienst von Rudolf Bühler, dass der Zuchtverband ein Erfolg wurde: "Er hat auf gute Leute aus der Praxis zurückgegriffen. Und er hat mehr von der Welt gesehen als wir."

Inzwischen bieten Fleischerfachgeschäfte bis zur Mainlinie ihren Kunden Lendchen und Koteletts vom Hällischen Schwein an. Gehobene Restaurants in Hamburg bekommen über den Versand Fleisch aus Hohenlohe. Die Bäuerliche Erzeugergemeinschaft hat inzwischen 1400 Mitglieder. Sie gibt 450 Menschen Arbeit, vergangenes Jahr machte sie 91 Millionen Euro Umsatz. Bühler ist der Vorstandsvorsitzende, aber lieber schmückt er sich mit einem traditionellen Titel und nennt sich ohne falsche Bescheidenheit einen Bauernführer.

Die neue Zucht des alten Landschweins hat die ganze Region verändert. Der Erfolg hat Landwirten und Handwerkern Mut gemacht, sich an traditionellen Spezialitäten zu versuchen. Wer sich davon überzeugen möchte, fährt am besten durch das gewundene Tal der Jagst. Das Schloss des Fürsten von Hohenlohe thront in Langenburg auf einem Bergsporn. Vor den Mauern lässt er gerade eine Weide für die Eichelmast einrichten. Nach dem Vorbild der begehrten Iberischen Schweine sollen sie sich durch den Eichenwald fressen, das Fleisch dieser Tiere will der Fürst als luftgetrockneten Schinken vermarkten. Außerhalb des Ortes weiden die Schafe von Familie Fischer, die erstklassigen Käse produziert. Und am Fuß des Schlossbergs wohnt Bernulf Schlauch, der Bruder des ehemaligen grünen Bundespolitikers Rezzo Schlauch. Er hat die Holunderlimonade, die er als Kind trank, zu einem Sekt weiterentwickelt. Im Frühjahr pflückt er rund um Langenburg 5000 Blütendolden, seine in Flaschen abgefüllten Kindheitserinnerungen vermarktet er übers Internet.

Hinter der überdachten Holzbrücke von Bächlingen möchte man am liebsten vom Auto aufs Fahrrad umsteigen, um mehr von diesem lieblichen Tal mitzubekommen. Die Straßen sind schmal und wenig befahren. Sie passen sich dem Flüsschen und der Landschaft an. Nach einer alten Mühle und vielen Kurven kommt Ailringen. Im "Alten Amtshaus" kocht Olaf Pruckner. Der Sternekoch sucht akribisch nach den besten Zutaten für seine Gerichte. Pruckner stammt nicht aus Hohenlohe, aber er ist begeistert von den Lebensmitteln, die hier erzeugt werden. Zum Beispiel der Coppa-Schinken vom Hällischen Landschwein, "der gehört zu den fünf besten, die ich je probiert habe." Einige seiner Stammgäste sind erst durch die Spezialitäten der hiesigen Bauern auf diesen entlegenen Landstrich aufmerksam geworden. Sie kommen aus Stuttgart oder Nürnberg. Der Küchenchef setzt ihnen raffinierte Kombinationen vor, edel und einfach. Die Hochküche meidet traditionell das Schweinefleisch, aber Pruckner scheut auch vor Deftigem nicht zurück: So serviert er schmelzenden Schweinebauch zu Jakobsmuscheln. Hohenlohe ist eine Adresse für Genießer geworden.

Im Schlachthof von Schwäbisch Hall hätte diese Erfolgsgeschichte um ein Haar ihr Ende gefunden. Bühler hat weiße Gummistiefel angezogen und führt im weißen Kittel durch diesen modern ausgerüsteten Betrieb. Eine Schnitzelschneidemaschine arbeitet mit Getöse, im Takt donnert ihr Fallbeil nieder. Ein Kettenförderband transportiert das Fleisch zum nächsten Apparat, dort wird es platt geklopft. Der Großkunde Daimler hat 4000 Schnitzel bestellt, in den Kantinen des Autobauers wird hällisches Biofleisch aufgetischt. Auf dem Hof rangieren Kühltransporter. Die Erzeugergemeinschaft unterhält eine aufwendige Logistik: 30 Fahrzeuge beliefern Restaurants, Metzgereien und Bioläden.

In einem langen Gang hängen 50 Geschlinge an Fleischerhaken. Das sind die rot glänzenden Innereien von Schweinen, die am Morgen geschlachtet wurden. Sie sehen aus wie riesige Dolden von bizarren Trauben - aus ihnen wird Katzenfutter hergestellt werden. Ein Metzger hängt Spanferkel in den Kühlraum.

Bühler zeigt auf eine Wand. Sie ist mit unterschiedlichen Fliesen gekachelt: Bis zur Brusthöhe sind sie beigefarben, darüber sind sie weiß. Die unteren Kacheln sind stumpf, die oberen glänzen neu. Diese zweifarbige Wand steht für die schwierigste Situation der hällischen Bauern. "Da haben wir unser Meisterstück im Verhandeln gemacht", sagt ihr Vordenker.

Die Bäuerliche Erzeugergemeinschaft schlachtete ihre Tiere im städtischen Schlachthof von Schwäbisch Hall. Dieser erwirtschaftete Verluste, jedes Jahr wenigstens 200000 Mark. Außerdem genügte die Anlage nicht mehr den europäischen Hygienevorschriften. Die Kuttelei wurde aufgegeben, im Jahr 2000 wollte die Stadt den Schlachthof ganz schließen.

"Das hätte uns das Genick gebrochen", sagt Bühler. "Der Schlachthof ist der Flaschenhals zwischen Erzeuger und Konsument. Wir hätten unser Qualitätsfleisch nicht mehr vermarkten können, wir wären in die Abhängigkeit der großen Schlachtkonzerne geraten." Diese hätten der Stadt Scheinangebote zur Übernahme der veralteten Anlage gemacht. Bühler fühlte sich wieder an seine Zeit in Bangladesch erinnert: Ein Großunternehmen, so seine Befürchtung, macht die kleinen Bauern platt, die das Massengeschäft stören. Er hatte den Eindruck, die Fleischindustrie habe den Markt von einem lästigen Konkurrenten bereinigen wollen.

Das Schreckensszenario von Rudolf Bühler sah so aus: Der Konzern, der den Schlachthof kauft, schließt diesen nach einer Schamfrist. Dann hat er die hällischen Bauern in der Hand: Wo und zu welchen Bedingungen sollen sie ihre Schweine schlachten? "Zum Glück versetzen Widerstände mich nicht in Depression - sie wecken Kräfte in mir", sagt Bühler. Er ergriff die Initiative, die Erzeugergemeinschaft sollte den Schlachthof übernehmen. Doch ihre Verhandlungsposition war schlecht: Die Bauern hatten eine Idee, aber nicht das notwendige Kapital.

Im Gemeinderat gab es unterschiedliche Interessen. Hintenrum bekam Bühler eine Unterstellung zu hören: Er wolle sich das marode Gebäude nur deshalb unter den Nagel reißen, um das Grundstück nach zwei Jahren teuer für andere gewerbliche Zwecke weiterzuverkaufen.

Als die Verhandlungen festgefahren waren, erklärte der Oberbürgermeister den Schlachthof zur Chefsache. Jetzt hatte Bühler endlich einen Ansprechpartner. Es war ein Glücksfall, dass Hermann-Josef Pelgrim in früheren Jahren für eine Stiftung in Südamerika gearbeitet hatte - die beiden Männer fanden eine gemeinsame Ebene.

"Ich kannte aus Lateinamerika die Konflikte zwischen Campesinos und Konzernen", sagt der Bürgermeister, "mir war es wichtig, Wertschöpfungspotenzial in die Hände der Bauern zurückzugeben - die vertikale Spezifizierung sollte von der Sau bis zur Wurst reichen." Pelgrim fand Gefallen an Bühlers Idee: Der habe zwar keinen ausgearbeiteten Businessplan gehabt, aber eine überzeugende Zukunftsvorstellung. "Der Mensch und seine Vision passten zusammen, das schuf Vertrauen." Der Bauer kämpfe dafür, "dass die Landwirtschaft wieder als Grundlage unseres Lebens anerkannt wird. Und er weiß, dass er als Einzelkämpfer nichts ausrichten kann."

Um den Schlachthof zu erhalten, verhandelte Bühler so, wie er es als Entwicklungshelfer gelernt hat. "Man darf sich nicht genieren, die eigene Bedürftigkeit herauszustellen", so der Bauernführer. Zudem habe er als Entwicklungshelfer die Erfahrung gemacht: "Wenn man ein klares Konzept und eine überzeugende Vision hat, kommt die Finanzierung irgendwoher."

Der Plan der Bauern sah so aus: Als Auffanggesellschaft für den Schlachthof gründeten sie eine Aktiengesellschaft. Jedes Mitglied der Erzeugergemeinschaft musste sich mit 500 Euro beteiligen, darüber hinaus sorgte Bühler dafür, dass diese AG ein breites Fundament bekam. Bürger, Kommunen und Tierschützer zeichneten Aktien. So brachten die Bauern 500000 Euro zusammen. Dazu kam ein weiterer Glücksfall: Der Vorstandssprecher der Sparkasse dachte über den Tag hinaus. Er sah, wie wichtig der Schlachthof für Hohenlohe war, und gewährte ein Darlehen von 700000 Euro.

2001 übernahm die Erzeugergemeinschaft den Schlachthof. Das Bundeslandwirtschaftsministerium, damals geführt von Renate Künast, sah darin ein Leuchtturmprojekt für die Regionalentwicklung. Aus Fördermitteln bekamen die Bauern einen Investitionszuschuss von 28 Prozent. Sie steckten 7,5 Millionen Euro in die Modernisierung. Jetzt entspricht die Anlage den strengsten Normen der Europäischen Union. 200 Festangestellte, die nach Tarif bezahlt werden, arbeiten dort. Vergangenes Jahr erwirtschaftete der Schlachthof einen Gewinn von 60000 Euro.

Auf dem Weg in die Wurstküche muss Bühler kurz ans Handy. Draußen regnet es wie aus Kübeln, er gibt seinem Vorarbeiter auf dem Sonnenhof die Anweisung: Die rumänischen Saisonarbeiter sollen in diesem Matsch nicht mehr Rüben hacken, sondern im Stall Schafe scheren.

In der Wurstküche steht der Metzgermeister Hans-Dieter Mayer. Der Sternekoch Pruckner hatte dessen Handwerkskunst über den Klee gelobt. Bedächtig bewegt sich der Meister zu dem Kessel, in dem das Brät für die Leberwurst gerührt wird. "Die Schweine haben heut' Morgen um sieben noch gelebt."

In Schwäbisch Hall wird nach dem Warmbrätverfahren gearbeitet. Direkt nach dem Schlachten wird das noch warme Fleisch zu Wurst verarbeitet. So haben die Metzger das jahrhundertelang bei der Hausschlachtung auf dem Bauernhof gemacht. Die Lebensmittelindustrie schaffte diese Technik ab, man arbeitet mit kaltem Brät und setzt Chemikalien zu.

Auch deshalb ist die Wurstmanufaktur ein Gewinn für die Erzeugergemeinschaft. Hier wird Biowurst ohne chemische Zusätze hergestellt. Sie erzielt auf dem Markt einen angemessenen Preis, und das gilt auch für die unedlen Teile der Tiere.

Der Kessel für die Leberwurst ist so groß wie eine Mischmaschine auf dem Bau. Der Metzgermeister kippt eine halbe Schüssel Kräuter in die Masse, dann gießt er aus einem Eimer Honig dazu, der rundet den Geschmack der Wurst ab.

Rudolf Bühler holt einen Batzen warmes Brät aus dem Rührkessel und probiert. Er ist zufrieden, das sieht man an seinen fröhlichen Backen. "Es ist ein Glück", sagt er, "wenn man das tun kann, was man für richtig hält." -