Leben in der Ukraine. Krieg und Sommer

2022-10-26 14:45:33 By : Mr. Ye Blair

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31. August 2022 · Krywyj Rih, das war immer Eisen und Maloche. Jetzt hat Putin die Ukraine überfallen, und alle treffen sich am See.

Krywyj Rih, das ist besiedeltes Eisen. Gekrümmt wie ein Tausendfüßler, folgt der Grundriss der Stadt den Förderbändern der Gruben, und diese folgen dem Erz tausend Meter unter der Erde. Abraumhalden, Tagebaukrater prägen das Industriegebiet „Krywbass“, und jetzt im Sommer trifft sich alles an den Baggerseen, als gäbe es keinen Krieg. Dazwischen verlieren sich die Wohnquartiere: mal die strengen Raster der Blocks, mal die von dünnen Katzen bevölkerten Staubpisten der Hüttensiedlungen. 650.000 Menschen leben hier, und im Fluchtpunkt steht immer das Stahlwerk Kryworischstal. Zu Zeiten der Sowjetunion war es eine Legende der Industrialisierung, heute gehört es dem Weltkonzern Arcelor Mittal. Seine Hochöfen waren einmal die größten der Welt, und bis heute thronen sie über der Stadt wie Pyramiden einer anderen Epoche.

Und von diesen Hochöfen gehen dann wieder die Gleise ins Weite. Zuerst ins ukrainische Schwesterrevier Donbass ein paar Hundert Kilometer weiter östlich. Das hat zwar kein Erz, aber es hat Kohle, und deshalb haben Donbass und Krywbass über Generationen eine brüderliche Tauschbeziehung geführt. Hier Erz, dort Kohle, und an beiden Enden Stahlwerke. Und dann natürlich startet hier am Stahlwerk die Strecke an die Häfen am Schwarzen Meer. Dort werden der Stahl, die Kohle und das Erz der Ukraine in die Welt verschifft. Oder besser: Sie wurden verschifft. Denn seit Wladimir Putin die Küste sperrt, seit die russische Armee die Kohlegruben und Hüttenwerke drüben im Donbass entweder erobert oder vernichtet hat, kriegt das Krywbass keinen Koks mehr, und es hat auch keine Ausfuhrhäfen für sein Erz und seinen Stahl.

Ein bisschen was geht noch per Bahn über Polen, aber die Strecke ist lang, und Arcelor Mittal teilt mit, die Kosten seien seit dem Beginn des Krieges aufs Fünffache gestiegen. Der Konzern hat deshalb seine Eisenbergwerke fürs Erste stillgelegt. Dasselbe gilt für den zweiten großen Grubenkönig der Stadt, den Oligarchen Rinat Achmetow. Beide Unternehmen haben allerdings ihre Belegschaften erst einmal behalten. Sie zahlen weiter zwei Drittel des Lohns, auch wenn kein Rad sich mehr dreht. Nach Ansicht des örtlichen Gewerkschaftsführers Juri Samuilow liegt diesem Entgegenkommen eine Absprache zwischen den Oligarchen der Ukraine und Präsident Wolodymyr Selenskyj zugrunde. Der hatte vor seiner Wahl den großen Paten der Ukraine zwar den Kampf angesagt, aber Samuilow meint, Russlands Angriff habe Oligarchen und Präsidialamt zu einem Waffenstillstand gezwungen. „Man kann nicht zwei Kriege auf einmal führen.“ In der Folge, sagt der Gewerkschafter, sind in Krywyj Rih jetzt etwa 150.000 Menschen in bezahltem Zwangsurlaub. Zehntausende weitere haben ihre Jobs verloren, als der Krieg begann. Kleinere Unternehmen hätten sich die teure Lohnfortzahlung nicht leisten können.

So herrscht in diesem Sommer eine Art gespannte Ferienstimmung in Krywyj Rih. Die Stadt hat noch nicht viele Treffer abbekommen, und seit der russische Vormarsch stecken geblieben ist, sind auch die Straßensperren weg. Nur noch an großen Kreuzungen liegen die zusammengeschweißten Stahligel am Gehsteig, für alle Fälle. Die Bierkiosks sind bis neun offen, um zehn ist Polizeistunde.

Früher galt Krywyj Rih als eine der Städte, die zu Putin überlaufen könnten. Die Belegschaften der Gruben und Hütten kommen aus der ganzen Sowjetunion, von überall zwischen Ostsee und Ostsibirien. Bis heute spricht man hier deshalb mehr Russisch als Ukrainisch, und bis vor ein paar Jahren haben prorussische Kandidaten in dieser Region noch Wahlen gewonnen. Aber seit 2014, nach Putins erstem Überfall auf die Ukraine, scheint sich die Stimmung geändert zu haben. Das beste Beispiel dafür ist Präsident Selenskyj. Er stammt aus dieser Stadt, als Junge sprach er Russisch. Heute verkörpert er den Überlebenswillen der Ukraine. Andere tun es ihm nach. Olexandr Wilkul zum Beispiel. Früher war er als Gouverneur ein Hauptvertreter der prorussischen Strömung im Land, heute ist er Chef der Militärverwaltung in Krywyj Rih. Am Beginn des Krieges wurde einer seiner Tweets zur Legende. Einer seiner früheren Freunde war zu Russland übergelaufen und hatte ihn eingeladen, es ihm gleichzutun. Wilkuls Antwort: „F*ck dich, Verräter, zusammen mit deinen Herren!“

Wahrscheinlich denken heute viele so in dieser russophonen ukrainischen Stadt. Im Zentrum zeigen Großeltern ihren Enkeln eine Ausstellung zerstörter russischer Panzer, die Jungs drücken sich am Zaun die Nasen platt. Die Blumenkübel zwischen den Blocks sind frisch im nationalen Blau-Gelb gestrichen, und auf T-Shirts prangt die Jungfrau Maria mit Panzerfaust statt Jesuskind. Und wahrscheinlich ist diese Dominanz patriotischer Bilder mehr als nur die Folge von Meinungsdruck. Wenn es hier irgendwo versteckte prorussische Gefühle geben sollte, hinterlassen sie jedenfalls keine Spuren. Die ukrainischen Fahnen sind nirgendwo beschädigt, und auch an den entlegensten Werkszäunen gibt es keine prorussischen Kritzeleien. Im Taxi läuft „Bayraktar“, ein Rap auf die Drohnen, mit denen die Ukrainer die Panzer der „Orks“ zerstören. Der Refrain des Songs: „Unser Kommentar: Bay-rak-tar.“

Und die Leute sind wachsam. Nina Pawlowna und Halyna Jehorowna zum Beispiel, zwei gesprächige Rentnerinnen auf einer Bank vor ihrem Block. Die eine war „Kadrowik“, also Personalerin in einem Kombinat, die andere Buchhalterin. Sie sprechen Russisch, wie alle hier, denn wie soll man mit achtzig noch Ukrainisch lernen. Eine ihrer Freundinnen, sagt Nina Pawlowna, hat trotzdem die Sprache gewechselt. Seit ihr Sohn im Krieg gestorben ist, sagt sie kein russisches Wort mehr.

Eigentlich wollten sie sich ja so gerne unterhalten. Sie wollten erzählen, wie sie sich um die vielen Zehntausend Geflohenen kümmern, die aus den russisch besetzten Gebieten nach Krywyj Rih strömen und jetzt in den Wohnungen von Leuten leben, die nach Polen oder Deutschland gegangen sind. Sie wollten berichten, wie sie Kleider sammeln und wie sie für Kinder Musikfeste organisieren. Sogar als der Bombenalarm losging, haben sie schreiend weitergeplaudert, denn kein Mensch gibt mehr etwas auf die Sirene. Dann aber haben die beiden Damen sich angesehen und gezögert. Fast konnte man ihre Gedanken lesen: Mit wem reden wir eigentlich? Warum fotografieren diese Ausländer dauernd? Fremde sind verdächtig. Wer weiß, ob nach dem nächsten Foto nicht gleich die nächste russische Rakete kommt? Nina und Halyna werden plötzlich wortkarg. Später, nachdem wir ihnen unsere Akkreditierung gezeigt haben, lachen sie über sich selbst. „Stell dir vor“, sagt Nina Pawlowna zu Halyna Jehorowna, „jetzt sind hier schon die Omas auf Agentenjagd!“

Nicht nur die Omas, auch die kleinen Jungs. An der Biegung, wo es zum Baggersee geht, haben Bohdan, Danilo, Timofej und Wlad ihren eigenen „Blockpost“ gebaut: einen richtigen Checkpoint, ganz wie die Großen, nur eben aus Reifen und Ästen. Auf einem Pappschild steht eine Losung, die Putin mit Organen der Körpermitte gleichsetzt, und Danilo, der gerade mit seinen Eltern aus dem besetzten Gebiet geflohen ist, erklärt, hier sammle man Geld für die Armee. Als Gesinnungstest verlangen die Jungs den Vortrag eines berüchtigten Zungenbrechers mit den unaussprechlichen ukrainischen Worten für Weizenbrot, Eisenbahn und Erdbeere, an denen jeder russische Spion bekanntlich scheitert. Wer den Zungenbrecher nicht schafft, muss zahlen.

Wir zahlen und erreichen den See. Früher war das mal der Granitbruch „Oktober“, aber seit dem Ende der Sowjetmacht säuft er ab. Jetzt sammelt sich auf den Vorsprüngen der Kraterwand alles, was gerade Lust auf Sonne hat in Krywyj Rih. Die Luft ist voll Schaschlikdunst und Kindergeschrei, und jemand hat einen elektrischen Boxautomaten hingestellt. Der dudelt „Auf in den Kampf, Torero“, wenn ein Familienvater seinem Söhnchen mal gezeigt hat, wie ein echter Kerl so zuschlägt, dass kein Gras mehr wächst. Die Jungs üben Arschbomben von den Felsen, die Frauen posieren mit Kussmund.

Am Rand des Felsens sitzen Ruslan und Oleh. Sie haben Budweiser mit, und ihr Gettoblaster spielt Notorious B.I.G., also amerikanischen Gangster-Rap aus den Neunzigern. Da waren Ruslan und Oleg noch jung, der Steinbruch war noch nicht abgesoffen, und am Kraterboden machten die Biker Party. Jetzt sind beide Familienväter mit Blockwohnung. Beide haben ihre Frauen samt Kindern nach Polen gebracht, als der Krieg begann. Die eine ist dort jetzt Putzfrau, die andere hat einen Fabrikjob.

Oleh geht es schlechter als Ruslan, denn Oleh hat seinen Job verloren. Als er am ersten Kriegstag in seiner Baufirma erschien, sagten sie ihm: Komm nächste Woche wieder. Nächste Woche sagten sie: Komm nächsten Monat, und im nächsten Monat hieß es: Vorbei, hol deine Papiere. Er holte sie ohne Groll und ging zum Kriegskommissariat, um sich zur Armee zu melden. Weil er aber nie gedient hatte, schickten sie ihn wieder weg, und seither lebt er von kleinen Jobs, die ihm Freunde verschaffen. „Ich komm zurecht“, sagt er. „Schlimm ist nur, dass ich meiner Frau nichts schicken kann.“

Ruslan hat es besser und auch wieder schlechter. Sein Bergwerk, die Grube „Gwardyjska“, ist noch in Betrieb. Sie exportiert über Land nach Polen, und so geht es für Ruslan jeden Tag unter Tage, bis auf minus 1300 Meter. Auf der Ehrentafel der Grube sind schon die Bilder von dreißig Kollegen, die im Krieg gestorben sind, sagt Ruslan, aber ihn selbst hat die Firma als unabkömmlich gemeldet. So musste er nicht an die Front, obwohl er gedient hat.

Ruslans Kummer, das ist seine ältere Tochter. Die ist mit einem ukrainischen Offizier verheiratet, und deshalb will sie partout nicht nach Polen. Obwohl sie ein kleines Kind hat. Wenn Ruslan drängt, sagt sie, fliehen geht nicht. Ihr Mann ist Panzeroffizier an der Front im Donbass, da kann sie doch nicht einfach abhauen. Stattdessen hat sie sich das ukrainische Dreizackwappen auf den Arm tätowiert und bleibt da. Da kann ihr Vater mit Engels- und Teufelszungen reden, es hilft nichts.

Die Sperrstunde kommt. Auf der Felsnase machen ein paar Jungs Anfang zwanzig noch Sprünge. Einer mit entwaffnendem Kinderlächeln heißt Denis, und er hat sich eine Wolfsangel auf den Nacken tätowiert. Die war einmal das Zeichen der SS-Division „Das Reich“, heute ist sie das Symbol des ukrainischen Regiments „Asow“, das nach der vergeblichen Verteidigung der Hafenstadt Mariupol zur Legende geworden ist. Denis gehört nicht zu dieser Einheit, aber ihr Kampfgeist beeindruckt ihn, und so trägt er jetzt die Wolfsangel auf der Haut. Er ist Soldat auf Urlaub, zwei seiner Kameraden sind vor seinen Augen gestorben. Einer versuchte, mit der Panzerfaust einen Panzer zu knacken, doch die aus dem Panzer konnten noch schießen. Am Ende waren alle tot, die russische Panzerbesatzung und der Ukrainer. Denis selbst ist MG-Schütze. Im Gefecht muss er die Russen so unter Feuer halten, dass keiner den Kopf hebt. Bei dieser Art des Schießens, sagt Denis, wird nicht groß gezielt. Man füllt einfach die Luft mit Blei. Ob er je jemanden getötet hat? – „Keine Ahnung.“ Und ist es wahr, dass diese Wolfsangel für Rassismus steht? „Nein“, sagt Denis. Bei ihm in der Einheit gebe es Juden, Muslime und Burjaten, und an der Front seien alle gleich. Und gleich danach erzählt er mit diesem kindlichen Strahlen noch von Maxim Tesak, seinem Vorbild. Das ist ein russischer Hitlerfan, der mit einer Kampagne zur Jagd auf Schwule berühmt geworden ist.

Auf dem Pfad hoch zum Kraterrand überholt Denis einen jungen Mann und eine junge Frau. Sie heißt Jelisaweta, er heißt auch Denis. Und Denis B ist das Gegenteil von Denis A: statt Bomberschnitt und Wolfsangel seidiges Haar mit Damensonnenbrille, statt freier Brustmuskeln ein T-Shirt mit zartrosa Dekor. Die Stimme ist weich und weiblich. Jelisaweta, seine Freundin, trägt Stachelhalsband. Ihr Kleid ist schwarz, ihr Lidschatten ist noch schwärzer, und in den Lippen stecken stählerne Piercings. Sie hofft auf eine Karriere als Tiktok-Star, aber weil in diesem ganzen Krywyj Rih keiner außer ihr auf Gothic-Punk steht, arbeitet sie erst einmal in einer Pizzeria. Der Lohn ist zwar runter, seit Krieg ist, aber was soll man machen? Es reicht zum Leben und manchmal auch für eine Spende an die Armee. Ein Klick auf der Bank-App, und vielleicht kriegt Denis A, der kindliche Kämpfer mit dem Faible für russische Schwulenhasser, dann die nächste Ladung Patronen für sein Maschinengewehr.

Leben in der Ukraine. Krieg und Sommer

Krywyj Rih, das war immer Eisen und Maloche. Jetzt hat Putin die Ukraine überfallen, und alle treffen sich am See.

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