Die Metallbäuche der Bretagne kotzen Garnelen, Schweinehälften und Menschen aus. - Der zu früh verstorbene Joseph Ponthus hat mit „Am laufenden Band“ ein beeindruckendes Buch über Zeit- und Drecksarbeit geschrieben : literaturkritik.de

2022-10-26 14:40:28 By : Mr. Ethan Do

Noch jede industrielle Transformation versprach, dass körperliche und dreckige Arbeit weniger, gar irgendwann verschwinden würde. Doch jeder, der einmal Windeln gewechselt hat, weiß: wir sind erdnah, was in der Windel landet, muss oben einmal hineingekommen sein. Und die Herstellung dessen, unserer Nahrung, das ist immer noch ein dreckiges Geschäft. Nicht alles nehmen einem Maschinen ab, vielmehr ist man oft nichts als ein Anhängsel der Maschine (das ist der Sitz im Leben der actor-network-theory, ganz sicher). Das sind so etwas gelockerte Assoziationen angesichts des faszinierenden Buches des französischen Sozial-, dann aber vor allem Zeitarbeiters Joseph Ponthus. 

Allerdings dachte ich bei der Widmung zuerst, ach Gottchen, jetzt wird wieder die Marseillaise gesungen und fraternité etc. und der Proletarier gefeiert. Stimmt nicht. Schon der Spott in der Widmung, über den ich zuerst hinweglas, hätte mich eines Besseren belehren sollen. Da heißt es, er, Ponthus, widme sein Buch „meinen Brüdern/ Den Proletariern aller Länder/ Den Analphabeten und den Zahnlosen.“ – die Zahnlosen also. Ponthus bügelt seine Erfahrungen nicht glatt und schneidet sie sich nicht politisch-links-korrekt zurecht. Ein Beispiel hierfür: das Motto des Buches stammt von Guillaume Apollinaire aus dem Ersten Weltkrieg: „Fantastisch, was sich alles ertragen lässt.“ – Krieg und Fabrik, das soll vielleicht auch die Assoziation sein. Aber für Ponthus gibt es nicht nur die „Eintönigkeit der Fabrik“, sondern er will auch „ihre paradoxe Schönheit“ beschreiben. Außerdem verliert erdurch die Fabrikarbeit seine Panikattacken, er schluckt keine Psychopharmaka mehr: „Die Fabrik hat mich beruhigt wie eine Couch“. Ponthus´ Erfahrungen und Beschreibungen gehen nicht auf in einer Klage über ‚entfremdete‘ und ausbeuterische Arbeit. 

Und wiederum: zuerst dachte ich, was soll das, dass das Ganze aufgebaut ist wie ein Langgedicht oder gar ein Epos, kein Fließtext. Ist das nicht manieriert? Nein, ist es nicht. Es entwickelt einen Sog beim Lesen, dies Fließen von Assoziationen, genauen Beschreibungen, Ponthus selbst hat dafür vielleicht mit einem Zitat Barbey d`Aurevillys die beste Beschreibung: „Ich schreibe wie ich spreche wenn der Feuerengel des Gesprächs/mich zum Propheten macht.“ Warum aber landet ein Sozialarbeiter in Fisch-, später einer Fleischfabrik(en)? 

Ich bin dort nicht für eine Reportage hin Und schon gar nicht für die Revolution Nein Die Fabrik ist für die Kohle Ein Brotjob Wie man so sagt Weil meine Frau es satt hat mich auf der Couch auf eine Stelle in meiner Branche warten zu sehen.

Ponthus heuert also bei einer Zeitarbeitsfirma an, bei einer „Bretonische(n) Fisch- und Garnelenproduktions- und -verarbeitungs- und -gar- und all das -fabrik“. Die Verträge laufen zwei Tage, mal eine Woche, mal länger. Ponthus gehört zur marxschen industriellen Reservearmee. 40 Tonnen Fisch täglich werden verarbeitet, nicht im Bauch von Paris, sondern in Metallbäuchen der Bretagne: 

Unsere gigantischen Förderbandmaschinen Metallbäuche in denen die Garnelen Aufgetaut Sortiert Gegart Wiedertiefgefroren Wiedersortiert Verpackt Etikettiert Und wiederwiedersortiert werden

Angeblich seien zwei Drittel der dort Arbeitenden ZeitarbeiterInnen. Die Garnelen stammen aus Nigeria, Guatemala, Ecuador. Das Maul des gefräßigen (mitteleuropäischen) Homo sapiens ist weltumspannend und man kann darauf wetten, dass die Arbeit in den Ursprungsländern der Garnelen womöglich noch lausiger ist als in der Bretagne. Wie lässt sich dieser Metallbauch beschreiben? 

Ich kenne nur wenige Orte mit einer so Kompromisslosen existenziellen radikalen Wirkung wie Griechische Heiligtümer Gefängnisse Inseln Und die Fabrik Kommt man heraus Weiß man nicht kehrt man zurück in die echte Welt oder verlässt man sie. 

Die Arbeit ist körperlich anstrengend, Ponthus hat dauernd Schmerzen, schluckt Schmerztabletten. Die Arbeit ist kalt, damit Fisch und Fleisch nicht gammeln, muss alles kalt sein, also auch das Maschinenanhängsel Mensch. Ponthus trägt drei Paar Handschuhe, mehrere Paar Socken. Und der Metallbauch muss permanent Ware ausspucken, die Herstellung läuft rund um die Uhr, mal ist Ponthus beim Frischfisch um vier Uhr morgens, also um zwei aufstehen. 

Dann irgendwann hat er für einen Sommermonat einen Job als Sozialarbeiter, eine Ferienfreizeit für „Menschen mit Behinderung“, jetzt ändern sich Arbeit, Arbeitszeit, Arbeitsrhythmus, wenn er bei seinen „Mongis“ ist. 

Wieder folgt ein Zeitarbeitsvertrag, vier Wochen Nachtschicht von 20.30 bis 5.30, Panierfischfabrik und Ponthus ist erneut Anhängsel, seine Physiologie muss sich umstellen, Zeitverschiebung: „Mein Organismus ist genauso orientierungslos wie ich in dieser /neuen Fabrik“. Irgendwann arbeitet er bei den Fertiggerichten, da muss Tofu abgetropft werden, ein widerlich gummiartiges Zeug – auch vegan genießende Bäuche sind aus Fleisch und Blut und zwingen Menschen aus Fleisch und Blut zu stumpfer Arbeit, nervtötend, zeitraubend, monoton: 

Die Zeit für einen Kaffee im Pausenraum Endlose Gänge Treppen Die verlorene Zeit Lieber Marcel ich hab gefunden wonach du gesucht hast Komm zur Fabrik ich zeig sie dir sofort Die verlorene Zeit Dann musst du keine Wälzer mehr darüber schreiben.

Industrielle Reservearmee, die angestellt, gefeuert, aber auch kontrolliert und diszipliniert wird. JedeR neue ArbeiterIn muss ein Heft bei sich tragen: „Integrationsverfolgung eines neuen Mitarbeiters“, da werden Teamgeist, Pünktlichkeit, Hygiene, Kommunikationsfähigkeit, Sicherheit, Verhalten, Umgang mit Nichtkonformitäten, Sorgfalt, Eigeninitiative, Einsatzbereitschaft, Sozialkompetenz, Selbstbeherrschung evaluiert, als ginge es um einen höheren Managementposten. Und man mag ein noch so holistisches Wesen sein, der Boss sagt irgendwann: „Schluss für dich/Bis zum nächsten Mal“, und man ist raus. 

Irgendwann gibt es einen neuen Vertrag, nun im Schlachthof, Ponthus muss das Förderband reinigen: „Alles ist rot vom Blut und weiß vom Fett“, er muss erst langsam lernen, wie man das reinigt. Es ist eine womöglich noch dreckigere Arbeit als in der Fischfabrik. Auch wenn dort der Geruch zum Beispiel von Wellhornschnecken („Eine Mischung aus toter Ratte/Watt/Pisse/ und schlechtem Wein/Muffig/Modrig“) penetranter gewesen sein mag, so wird er hier selbst zum Tier, das Tiere frisst: „Ich habe Blut geleckt/Wörtlich/Spüre es im Mund/Das Schweineblut/Die Spritzer und Rückstöße des Hochdruckstrahls“ – überdies können die MitarbeiterInnen im Supermarkt des Schlachthofs günstig Fleisch kaufen: 

Als müsste mich das Fleisch das ich den ganzen Tag herumschiebe Ernähren Als müsste es mir Kraft geben Seine Kraft

Und was ist mit den KollegenInnen, denen er sein Buch widmet? Auch hier vermeidet Ponthus wohlfeiles fraternité-Gedusel. Er sieht natürlich, dass es unsolidarisches Verhalten gibt, er macht keinen Hehl aus seinen Zorn und seiner Verachtung. In der Fischfabrik zum Beispiel taucht ein neuer Zeitarbeiter auf: 

Er ist nicht nur ein Drückeberger Kippenschnorrer Mitfahrgelegenheitswegschnapper Nein er ist vor allem genauso kälteempfindlich wie verständnisresistent 

Nicht großartig anders benimmt sich ein von allen bewunderter ehemaliger „Hochseefischer“, auch ein Verpisser, der wenig arbeitet. Deshalb werden Ponthus und er vom Chef angeranzt, was Ponthus hilflos aggressiv macht. Überdies ist dieser „Hochseefischer“ ein machistisches Arschloch, das davon schwärmt, wie er seiner Frau den „Kolben“ „reingerammt“ hat. 

Gegen Ende des Buches kommen eher sanftere Passagen, ein Brief an die Mutter, die an einem Multiplen Myelom, einer Spielart des Blutkrebses, erkrankt ist: „Auf die Schule des Krebses/Ist man nicht vorbereitet“, man kann Krebs „nichts lernen.“ 

Und zum Schluss gibt es dann doch noch das eposartige Langgedicht, das an Inger Christensens Alphabet erinnert, eine Art Liebesbrief an seine Frau: „Es gibt dieses Lied von Vanessa Paradis das nach unserem/Hochzeitstanz kam“, „Es gibt deinen Geburtstag an diesem Gründonnerstag“, „Es gibt den Schlachthof wo ich morgen früh wieder anfang“, „Es gibt Kühe in Warteställen die darauf harren im Morgengrauen/geschlachtet zu werden“, „Es gibt unsere Liebe“. 

Joseph Ponthus, geboren 1978, ist ein faszinierendes Buch über die Arbeitswelt in den industrialisierten Metallbäuchen der Fleisch- und Fischindustrie gelungen. Ich hätte gerne seine Karriere weiterverfolgt – doch er ist viel zu früh am 24. Februar 2021 an Krebs verstorben.

Joseph Ponthus: Am laufenden Band. Aufzeichnungen aus der Fabrik. Aus dem Französischen von Mira Lina Simon. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2021. 280 Seiten, 22,00 EUR. ISBN-13: 9783751800433

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

https://literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=28577

Letzte Änderung: 24.01.2022 - 15:50:02 Erschienen am: 24.01.2022 Lesungen: 1845 © beim Autor und bei literaturkritik.de Lizenzen zur Nachpublikation

Was Goethes Gedichte über seine geheim gehaltene Liebe offenbaren. Neue, erweiterte Ausgabe! Verlag LiteraturWissenschaft.de

„Ich habe die Portraits mit großem Vergnügen gelesen, sie sind gescheit, wohl abgewogen und sachlich.“ (Per Wästberg, Mitglied der Schwedischen Akademie) Verlag LiteraturWissenschaft.de

Ein Wissenschafts- und Kriminalroman der besonderen Art, von einem renommierten Physiker, der die Welt und die Theorien kennt, über die er schreibt. Verlag LiteraturWissenschaft.de

Anzeigenangebote bei literaturkritik.de hier!

Oktober-Ausgabe mit den Themenschwerpunkten: I. Nobelpreis für Annie Ernaux und II. Buchmesse mit Gastland Spanien

Vorige Ausgabe mit dem Themenschwerpunkt: Deutscher Buchpreis 2022

Offenes Rezensionsforum für Abonnenten

Die nächste Ausgabe erscheint am 7. November 2022. Wir bitten um Unterstützung durch ein Online-Abo!

Marcel Reich-Ranicki: Günter Kunert, Philip Roth, Heinrich Böll, Die Gruppe 47, Martin Walser, Peter Weiss, Wolf Biermann, Mein Shakespeare, Hermann Kant, Wolfgang Koeppen, Friedrich Dürrenmatt (zum 100.Geburtstag am 5.1.2021), Thomas Bernhard (zum 90. Geburtstag am 9.2.2021), Erich Fried (zum 100. Geburtstag am 6.5.2021) und neu: Franz Fühmann (zum 100. Geburtstag am 15.1.2022) Unser Internetportal Marcel Reich-Ranicki enthält einen Überblick zu Beiträgen in diversen Medien zu seinem 100. Geburtstag.

Neu in Fortsetzungen: - Eine Schatzkiste fürs Leben. Anregungen für ein sinnerfülltes Leben. Von Hubert Jung - Heide Tarnowski: überallundnirgends. 2017 mit 74 - Ein Tagebuchroman / Fortsetzung 2021: 2018 mit 75

- Thomas Anz (Hg.): "Es geht nicht um Christa Wolf." Der Literaturstreit im vereinten Deutschand - Dirk Kaesler: Über Max Weber. Beiträge in literaturkritik.de 2006 - 2020 - Bernd-Jürgen Fischer: Robert de Montesquiou und Marcel Proust - Walter Müller-Seidel: Literatur und Medizin in Deutschland

- Literatur, Kunst und Wissenschaft im Ersten Weltkrieg. Dokumente. Hg. v. Th. Anz u. M. Stark - Sigmund Freud: Zeitgemäßes über Krieg und Tod

- Die Bibel als Literatur (jetzt auch als E-Book)

1968 in der deutschen Literaturwissenschaft (Hg. von Sabine Koloch)

Zum 200. Geburtstag von Lola Montez: Die Biografie von „Krauss zeigt, wie spannend und unterhaltsam wissenschaftliches Erzählen sein kann.“ (SZ, Extra) C.H. Beck

Zweiter Tagungsband über Goethes Liebesbeziehungen im Spiegel seiner Werke Neu im Verlag LiteraturWissenschaft.de

Neu im Verlag LiteraturWissenschaft.de

Sterbende Kinder sehen keinen Erlkönig Kleine Literaturgeschichte des sexuellen Missbrauchs von Christian Milz

Die kopernikanische Wende in der Büchner-Rezeption: Über einen Satz in Georg Büchners Woyzeck-Fragment von Christian Milz

Das Tor des Unheils Camus` "Der Fremde" entschlüsselt von Christian Milz

Simone Frieling über alle Nobelpreisträgerinnen für Literatur

Textwerkstatt Stefan Jäger für Lektorat, Redaktion und E-Book

Roboter, künstliche Intelligenz und der Roman Aufstand der Denkcomputer (mit Video) des Physikers Richard M. Weiner

Ähnlichkeiten des Film-Erfolgs Downsizing (2017) mit einer Idee in Weiners Roman Das Miniatom-Projekt (2006)

Die geliebte Schwester: Schillers Schwägerin Caroline und ihr Roman Agnes von Lilien

Ideale Buch-Geschenke für:

Rosen- und Literatur-Liebhaber/innen und zur Ergänzung von Rosensträußen

Island-Fans Physiker, die gerne Krimis lesen, oder Krimi-Leser, die sich für Physik interessieren Science Fiction-Fans Psychoanalytiker & Literaturliebhaber Kenner der Goethe-Zeit, der Literatur um 1900 oder der Wiener Moderne

Emotionsforscher/innen Christa Wolf-Leser/innen

Hochschulschriften online über: Erich Kästner Literaturkritik für das Internet Untersuchungen zur Sach- und Fachbuchkritik Kinder- und Jugendbuchkritik Ingeborg Bachmann unter postkolonialer Perspektive

Website Walter Müller-Seidel